Spätwerk (Arte Cifra)
Ölgemälde
Erstaunlich mag es erscheinen, dass
sich Erna Dinklage im hohen Alter von 75 Jahren noch einmal auf ihre
genuinen Fähigkeiten besinnt
und nach 30 Jahren Suche den für sie richtigen Weg findet.
Sie schafft in absoluter Abgeschiedenheit auf dem Lande und fern
der zeitgenössischen, vorwiegend sich abstrakt gebärdenden offiziellen
bildenden Kunst ein eindrucksvolles, unverwechselbares Spätwerk,
das weder formal, noch inhaltlich, noch in irgendeiner anderen Weise
Berührungspunkte mit den alten Zielen der Neuen Sachlichkeit
der 20er Jahre aufweist.
In diesen neuen Gemälden verschränken sich das Evidente mit
dem Verschlüsselten, und in der formalen Durcharbeitung und ihrer
koloristischen Differenzierung entstehen eindrucksvolle Werke eines großen
schöpferischen Reichtums.
Auffällig ist die Kopflosigkeit der Gestalten.
Der Kopf wurde für Erna Dinklage
ein Symbol des „kleinen Geistes“, wie sie es nannte, eines
einseitig orientierten, ausschließlich des Zweckes und der Effizienz
dienenden Verstandes, der den Menschen zerstört.
Ihn will die Künstlerin nicht mehr darstellen.
Der Kraft des Unbewussten, der Kraft des Herzens
ist mehr zu vertrauen.
Der Mensch als geistiges
Wesen indes wird nicht in Frage gestellt. "Kopflosigkeit" ist
auch keine Absage an die Vernunft, sehr wohl aber an einen reinen Pragmatismus,
dem das Gegengewicht der Gefühle abhanden zu kommen droht und mit
ihm auch die innere Kraft und Leidenschaft zu rettenden Visionen.
Diese
Erkenntnis zur bildnerischen Gestaltung ohne Kopf wuchs im jahrelangen
Bemühen, einen für sie richtigen Weg der Darstellung zu finden.
Es war ein Prozess, ausgehend von Köpfen mit leicht reduzierten
Gesichtern, über Köpfe nur mit Augen, an dessen Ende schließlich
nur das Auge übrig blieb, als Sinnbild der inneren Sicht, als Fenster
der Seele, eingebettet in den Körper.
Aus der Mitte des Menschen heraus will Erna Dinklage eine positive, helle
Lebenssicht darstellen. So strahlen ihre Farben und die dargestellten
Körper von einem verhaltenen inneren Leuchten.
Ungebrochen
heiter stellt sich Erna Dinklages innere Welt jedoch nicht dar. Momente
von Trauer, Vergänglichkeit oder Abgründigem schwingen
mit. Wie Schattenflügel huschen sie über ihre Bilder, eine
Welt, die sich in Traumgebilden und Imaginationen voller poetischer Anspielungen
entfaltet.
Das Vegetative des Menschen und das Anthropomorphe der
Natur antworten einander. Exemplarisch sei hier die Komposition "Sturm" (1976)
angeführt: Die vom Unwetter bedrohten Bäume bekommen Hände
und Füße, um sich in das Erdreich zu krallen und die Sturmböen
abzuwehren.
Koloristisch besonders reich und im Aufbau differenzierter gestaltet
sie das Bild "Der_große_Fisch" (1973),
eine Darstellung, die zweifellos zu den überzeugendsten Werken dieser Phase zählt.
Komplementärkontraste, der Wechsel plastischer und malerischer Formen,
die Rhythmisierung des Verhältnisses von Figur und Grund, sowie
die ebenso bedeutsame wie sinnfällige Gestik verleihen der Szene
eine große Lebendigkeit.
In diesem Gemälde wird die Ambivalenz des Lebens offenbar. Eine
Hand der stehenden Frau empfängt den Fang freudig, während
die andere Hand ihn traurig abwehrt.
Die Sprache der Gebärde, die Haltung
des Körpers, und seiner Gestik kommt aus dem Unbewussten. Sie
ist unverstellt und wahrhaftig. Dieses Anliegen der Künstlerin
lässt sich an dem Bild "Zwei_Gestalten
im_Regen" besonders gut veranschaulichen. Beide
Frauen verbindet ein Geheimnis, symbolisiert durch die Masken. Die
rechte Gestalt ist
nackt, schutzlos und labil. Sie braucht eine starke Schulter, um sich
anzulehnen und festzuhalten. Die Stellung ihrer Beine verrät, dass
sie sich selbst im Wege steht. Die linke Gestalt hingegen ist stark und
bodenständig. Der Freundin leicht zugewendet, fordert sie zum Weitergehen
auf, gleichzeitig ergreift sie mit ihrer linken Hand den schützenden
Schirm, während ihre rechte Hand die Argusaugen in den Fenstern
abwehrt.
Schon allein die Körpersprache offenbart dem Betrachter, in welchem
Verhältnis die beiden Freundinnen zueinander stehen.
Dr. Armin Zweite bemerkt in diesem Zusammenhang: "Betrachtet
man die lange Reihe der Darstellungen, dann ist man immer wieder von
dem
Bemühen um kompositorische Komplexität überrascht." Als
Beispiele, "Arbeiten von hohem Niveau" (Zweite), seien angefügt: "Musik
und Harmonie", "Musik", "Liebesgarten", "Die_Flucht", "Der_Tanz
um das goldene_Kalb", "Mädchen
im_Gewitter", "Mädchen
mit_Rad", "Jüngling_mit
lächelnder_Wolke", "Am_Strand", "Die_Dichterin", "Wandernder_Stein", "Wüste", "Frühling"; sie sind
gleichzeitig beispielhaft für die Tendenz zur formalen und ikonographischen
Reduktion.
Kompositionen wie "Umarmung" und "Das Paar" gehen
von zwei Gestalten aus, verschmelzen diese aber in halbfigurigen Gemälden
zur Einheit.
Der andere Pol dieses sehr differenzierten Schaffens gilt einer noch
weiteren Beschränkung des formalen Repertoires, wie im Bild "Der_weiße_Stein". Hier wird eine alltägliche Naturerscheinung
unter den Händen der Künstlerin zu etwas Geheimnisvollem.
In diesem Zusammenhang ist auch "Der archaische Fisch" (1982)
zu nennen. Hier sind es organische Formen, die sich durchdringen. Auch
diese geheimnisvolle, symbolhafte Arbeit wirft Fragen und Rätsel
auf. Gleitet dieses urtümliche Fabelwesen durch dämmrige Zonen
eines Meeres oder durchdringt es verschiedenfarbige Wolkennebel des Himmels?
Alte, dunkle Saiten werden angerührt.
Indem die Malerin zurückschaut auf eine archaische Welt, möchte
sie daran erinnern, wie in der kalten Geschäftigkeit und atemlosen
Hektik unseres Lebens, vieles aus dem Blick geraten kann, was zu bedenken
wichtig wäre.
Diese rätselhaften Darstellungen
der Erna Dinklage scheinen jedoch im Kontext der bildenden Kunst keineswegs
so isoliert zu sein, wie man
zunächst vermuten könnte. Zu denken ist an die neu entdeckte
Figuration in der Malerei der frühen 80er Jahre und mit Einschränkungen
auch an die Arte_Cifra der Italiener, etwa
an Cucchini, Paladino, Clemente und Chia. Sie geben den Rahmen ab, der
eine neue Würdigung der Malerin,
wie auch der Einmaligkeit ihrer unverwechselbaren Arbeiten, erlaubt.
Auch aus diesem Spätwerk gab es zahlreiche Ankäufe.
Die Hoffnungen, die Wilhelm Hausenstein 1930 in der "Süddeutschen
Sonntagspost" formulierte, haben sich in vollem Umfang bestätigt: "Hier
ist eine gute Kraft des jüngeren München, und ihre Zukunft
wird uns nicht minder beschäftigen als ihre anziehende Gegenwart."
Der Begeisterung von Frau Dr. Anna Jutta
Pietsch (Aspekte-Galerie im Gasteig) ist es zu danken, dass 1989 eine
umfangreiche Ausstellung
der
Erna_Dinklage möglich wurde und drei Jahre später, 1992, eine
Gedächtnis-Ausstellung. Sie hat mit beiden Ausstellungen des Spätwerkes
der Erna_Dinklage das alte Talent der "Neuen_Sachlichkeit" wieder
zu neuem Leben erweckt.